KÜNSTLERHAUS

BETHANIEN

Ausstellung

Perceive Shadows in Mother Tongue

Sera Yu Wen Chen

Wenn von einer einzigen Lichtquelle beleuchtet, haben die Schatten mehrerer Objekte, die auf eine Oberfläche projiziert werden, die gleiche Intensität und zeichnen die Umrisse eines chimärenhaften Musters.
Sera Yu Wen Chen sammelt Schatten. Ihre Werke setzen sich aus Elementen zusammen, die gewissenhaft zusammengefügt wurden: Archive, Zeugnisse und Anekdoten, die sowohl von Humor als auch von stiller Dringlichkeit durchsetzt sind. Sie mischen das Historische und das Intime, das Faktische und das Theoretische.
Die zahmen Kreaturen, die aus diesen Collagen hervorgehen, erzählen von der kolonialen Organisation von Territorien, Körpern und Köpfen: eine Definition von Identität.

In „Imagine a Tropical Island: The Landscape in Someone’s Mouth“ (2023) diskutieren Freunde beiläufig über die körperliche Wahrnehmung von Hitze in verschiedenen Kulturen und reflektieren dabei über die normativ-exotische Semiotik, die von „hellhäutigen“ kolonialen Akteur*innen geschaIen wurde.
Das Video folgt mit einer praktischen Einführung in die digitale Generierung von archetypischen Fantasiewelten, die aus digitalen Bibliotheken erstellt werden.
Die Künstlerin konfrontiert die Betrachter*innen mit Strukturen und Systemen, die als geisterhafte Erscheinungen dargestellt werden, die umgarnen und gefangen halten: Gewächshäuser, Museen und verschwommene Postkarten-Landschaften.
Für Giorgio Agamben ist ein Apparat „alles, was […] die Fähigkeit hat, die Gesten, Verhaltensweisen, Meinungen oder Diskurse von Lebewesen zu erfassen, zu orientieren, zu bestimmen, abzufangen, zu modellieren, zu kontrollieren oder zu sichern.“*
Ein Apparat ist ein mächtiges und schwer fassbares Netzwerk, das die Form eines Stifts, eines Smartphones, von Zigaretten und sogar von Sprache hat.

In Sera Yu Wen Chens Werken verschmelzen Apparate zu Nachahmungen von in Luftpolsterfolie eingepackten Relikten (Perceive Shadows in Mother Tongue, 2024), Stillleben, Origami oder der destruktiven Theorie der Physiognomie, die das Spektrum der Ethnie zu definieren versucht und ihre moderne Fortsetzung im Technokolonialismus findet (Behold the Glass Before the Cave, 2020): KI, Algorithmen und statistische Durchschnittswerte.
Inmitten des Apparats werden wir alle zu konstitutiven Teilen des Schattens, des Terrains und der Kultur für Determinismus und konditionierte Subjektivierung.

In „Imagine a tropical island II: transplanter’s land“ (2023) blickt man nicht auf den Schatten einer Palme, sondern auf ihre Projektion: ein Nachbild, das als Erweiterung oder Vervielfältigung des Apparats zu denken ist.
Der künstliche Schatten erscheint nur beim Klang einer weiblichen Erzählerin: eine Stimme, die wie eine Beschwörung klingt, ein Flüstern, die giftige Beruhigung von ASMR.

Die Erzählerin ist Japanerin und spricht Taiwanesisch, wie das kaiserliche Japan das Territorium Taiwans durch die Einführung von Pflanzen und Landschaftspraktiken umgestaltete. Die Umkehrung der Sprachen ist alles andere als erlösend, sondern vermittelt die Kälte der passiven Gewalt kolonialer Strategien: die biokulturellen Arsenale, die Allgegenwart der Apparate.
Indem sie einfache visuelle Mittel einsetzt, widersteht die Künstlerin der tentakelhaften und falschen Komplexität der Apparate.
Sie bietet eine Finsternis an, die an Virginia Woolf erinnert, die uns auIordert, dem hemmenden Licht zu entfliehen: „aus der Dunkelheit, dem Reich der vollständigen Schatten, zu streben.“**

* What is an Apparatus, Giorgio Agamben, trans. David Kishik and Stefan Pedatella (Stanford University Press, 2009)
** Three Guineas, Virginia Woolf, 1938

Text: Bernard Flanet

AUSSTELLUNG
08.11. – 08.12.2024
Di - So: 14 - 19 Uhr
Eintritt frei

ERÖFFNUNG
07.11.2024
19 Uhr

KÜNSTLERPORTRAIT
Sera Yu Wen Chen