KÜNSTLERHAUS

BETHANIEN

Ausstellung

When all else fails, try love

Nicole Rafiki

untitled, 2019, © Nicole Rafiki, Courtesy Nicole Rafiki

Die interdisziplinäre Praxis von Nicole Rafiki (*1989) bewegt sich zwischen Fotografie und Perlenstickerei, Textil und Text, alten und neuen Erinnerungsobjekten. Rafiki sieht ihre Arbeiten nicht als fertige Endprodukte, sondern versteht das Kunstschaffen als eine Praxis der Erinnerung, Heilung und kulturellen Analyse.

Ihre Bilder greifen oft auf künstlerische Strategien zurück, die den westlichen anthropologischen Blick unterlaufen. Mit Hilfe von Symbolen, Fabeln und anderen Instrumenten webt sie eigene Formen des Visual Storytellings. In ihrer Arbeit wendet sich Rafiki Themen wie Zwangsmigration zu und tritt Kriegsgeistern gegenüber. Sie adressiert rassistische Wahrnehmungen von Schwarzsein und Weiblichkeit sowie verfestigte koloniale Traditionen räumlicher Macht und zeitlicher Auslöschung. Als Kind der kongolesischen Diaspora mit Verbindungen in verschiedenen Ländern Afrikas und Europas untersucht sie vorkoloniale Formen der globalen Vernetzung und des Wissenstransfers. Indem sie mit unterschiedlichen Formen der Oral History experimentiert, entwickelt sie Erzähltechniken, die vermitteln, wie Dinge und Ereignisse gefühlt und körperlich wahrgenommen werden, anstatt immer wieder in die Sprache hegemonialer Geschichtsschreibung zu verfallen.

Die Ausstellung „When All Else Fails, Try Love“ ist das Ergebnis von Rafikis Residency in Berlin, für die sie sich mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Folgen auseinandergesetzt hat. Mit dem Begriff „Geraubte Geschichte“ (looted history) adressiert sie die Problematik gestohlener Elemente der Kultur, die über geraubte Kunstwerke hinaus geht und die kolonialen Verstrickungen der Kunstgeschichte mit einschließt.

In Weiterführung ihrer Arbeit über geteilte Weltgeschichten und generationsübergreifende Formen der Erinnerung, beschäftigt sich Rafiki auch mit der Präsenz menschlicher Überreste in deutschen Museumssammlungen, Krankenhausarchiven und Universitäten, die aus der kolonialen Praxis des Sammelns menschlicher Körper unter dem Vorwand der Forschung stammen. Hierbei zeichnet sie nach, wie entmenschlichende Logiken noch heute in Kulturinstitutionen weiter wirken, etwa wenn Knochen als „Artefakte“ oder „Eigentum“ etikettiert werden.

Wie Rafiki anmerkt, können institutionelle Praktiken wie diese die Empfindung auslösen, zur „lebenden Toten“ reduziert zu werden. Sie reagiert darauf, indem sie sich selbst einbalsamiert. Wie kann ein Schwarzer Körper existieren, wenn er darauf konditioniert ist, aus einer Position des „Anderen“ heraus zu handeln? In ihrer ortsspezifischen Installation, die Foto- und Videoarbeiten sowie skulpturale Arbeiten umfasst, inszeniert die Künstlerin Mumifizierung als ersten Schritt zur Wiederauferstehung. Rafiki widersteht der Erwartung, dass es Schwarze Körper sind, die vis-à-vis „Geraubter Geschichte“ die Rolle der Katalysator:innen für Veränderung übernehmen müssen, und gibt die Verantwortung für Restitutionen zurück an die betreffenden Institutionen.

Die Hinwendung zum Leben und das Einladen verwandter Seelen als Akte des Überlebens sind auch auf Rafikis Wandcollage spürbar. Inspiriert von den vielen öffentlichen Botschaften und Bildern an den Häuserfassaden in Kreuzberg 36, die längst Teil der politischen Architektur des Viertels sind, zitiert Rafiki die Wand als kollektiven Raum des Gedenkens in der Stadt. Mit ihrem Mural würdigt sie ihre unzähligen Zeitgenoss:innen, die in den Kriegen im Kongo 1997 bis 2003 – die als jüngster Weltkrieg gelten müssen – gekämpft haben, gestorben oder vertrieben worden sind. In der raumumfassenden Collage, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, versammeln sich verstorbene und lebende Familienmitglieder auf Fotografien, von denen viele mitten im Krieg in der Demokratischen Republik Kongo aufgenommen wurden. Die Angehörigen der Künstlerin sind bei Ausflügen und Hochzeiten zu sehen oder machen ein Familienfoto, kurz bevor sie gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen. Wo der Blick von außen solche Realitäten mit gewalttätigen Epistemen wie „Krise“ und „Konflikt“, „Flüchtling“ und „Artefakt“ überschreibt, erscheint Rafikis Insistieren auf die Gegenwart liebevoller Gesten der Fürsorge als Zeugnis des alltäglichen Widerstands gegen Entmenschlichung.

– Noemi Y. Molitor

Nicole Rafiki ist Stipendiatin von Office for Contemporary Art Norway (OCA).

AUSSTELLUNG
30.09. – 23.10.2022
Di - So: 14 - 19 Uhr
Eintritt frei

ERÖFFNUNG
29.09.2022
19 Uhr

KÜNSTLERPORTRAIT
Nicole Rafiki